(Geschichte für das Mitteilungsblatt Gemeinde Kernenried März /April 2023)
Ein gepflegter und leicht bombierter Weg aus fest komprimiertem Juragrien führt durch das idyllische und dichte Wäldchen aus Mischholz. Nach einigen lang gezogenen Kurven, einmal nach links und einmal nach rechts, lichtet sich der Forst in eine offene und flache Ebene. Unmittelbar nach dem märchenhaften Wald steht Klara vor einer Ansammlung von gepflegten Häsern, welche aus unterschiedlichen Zeitepochen stammen. Bis auf einige uralte stattliche und mächtige Bauernhäuser sind die Gebäude eher bescheiden und niedrig. Klara kommt zum ersten Mal in das kleine Dörfchen und ist bezaubert von dessen Schönheit und ruhigen Stimmung die es ausstrahlt. Sie ist rund 3km vom nächstgelegenen Bahnhof hierher marschiert, weil die junge Frau eine neue Stelle als Lehrerin antritt. Im Kern des Dorfes befinden sich ein grosser Gasthof, verschiedene Betriebe des Kleingewerbes sowie eine Bäckerei und Metzgerei. Mit einem starken Westwind und strahlender Sonne im Gesicht schreitet sie nach Kurzem ihrem neuen Zuhause und Arbeitsort entgegen. Schon bald erkennt sie das Schulhaus, ein für das Dorf sehr markantes und stilistisches Gebäude. Auf dem beeindruckenden Weg durch das Dorf, wundert sich Klara über eine spezielle Besonderheit die nicht zu übersehen ist. Ohne Ausnahme steht bei jedem Haus ein oder mehrere Gartenzwerge aus Holz im Garten. Diese präsentieren sich in allen möglichen Formen, in Naturholz oder bunt bemalt.
Beim Schulhaus angekommen, trifft sie auf einen gesprächigen Oberstufenschüler und fragt nach dem Lehrerzimmer. Bei dieser Gelegenheit und weil sie noch viel zu früh ist, fragt sie den Jungen zudem nach dem Sinn und Motiv der vielen Zwerge im Dorf. Mit grosser Leidenschaft und noch grösseren Augen beginnt der Teenager zu erzählen.
Ein unheimlicher und gewaltiger Sturm fegte vor vielen Jahrzehnten über mehrere Tage durch das Dorf. Kein einziges Hausdach wurde von der Wucht der Zerstörung verschont. Teilweise sind ganze Gebäudeteile in sich zusammengestürzt. Die himmlischen Fluten sammelten sich am Boden zu reissenden Flüssen, welche alles mit sich zerrten. Wie durch ein Wunder sind weder Menschen noch Kühe, Pferde, Hunde und andere Haustiere, zu Schaden gekommen. Bäume sind teilweise wie Streichhölzer durch die Luft geflogen oder wurden von den Fluten verschlungen. Der Sturm hinterliess eine unvorstellbare Zerstörung und die Leute wussten sich nicht mehr zu helfen. Wo sollten sie mit Aufräumen und Flicken beginnen. Hatte es einen Wert alles wieder aufbauen zu wollen. Woher sollten sie neben der Kraft, das Material, das Werkzeug und schliesslich das Geld hernehmen. Im Schulhaus, eines der stabilsten Gebäude dieser Zeit, quartierten sich viele Leute ohne Dach über dem Kopf ein. Auch im damals bereits existierenden Gasthof, welcher ebenfalls mit wenigen Schäden davongekommen war, wurden die Dorfbewohner verpflegt. Ebenfalls von dort aus koordinierte die stark vereinte Bevölkerung den Wiederaufbau des Dorfes. Dies geriet immer mehr in ein verzweifeltes und schier hoffnungsloses Treten an Ort. Das Wegräumen von Schlamm mit Pferd und Karren, das zusammentragen von Bauholz und Steinen schien nicht bewältigt werden zu können.
Trotzdem war das gesamte Dorf an einem späten Nachmittag bei prächtigem Sonnenschein stoisch mit den Aufräumarbeiten beschäftigt, als einige Kinder durch die Strassen gerannt kamen und aufgeregt verlauteten: «Die Musik kommt, die Musik kommt». Kurz darauf war tatsächlich ein Pfeifen, Trommeln und Blasen zu vernehmen. Als die Klänge dann näherkamen und die Leute das Arbeiten einstellten kam aus dem Wald eine Schar Frauen und Männer. Mit dabei hatten sie Fuhrwerke, Werkzeuge, Baumaterial und Lebensmittel. Es waren deren 101 Helferinnen und Helfer, welche dem Dorf beim Wiederaufbau zur Seite standen. Aus den weiter gelegenen Regionen hörten sie von dem schweren Schicksal dieser Gegend und organisierten sich als Hilfswerk. Sie nannten sich die Zwergler und führten einen Zwerg als Maskottchen mit sich. Dies in Anlehnung an die sagenumwobenen kleinen Wesen, welche fleissig, selbstlos, geschickt und hilfreich den Menschen helfen.
Nachdem der Ort Monate später wieder einigermassen in Stand gestellt war, verliessen die Zwergler das Dorf wieder. Dafür wurde ein grosses Fest gefeiert und die Dorfbevölkerung schnitzte 101 verschiedene Zwerge, welche im ganzen Dorf, als Gedenken und Dank an die Helfer, platziert wurden. Das inoffizielle Dorfwappen trägt denn auch seither einen winzigen Zwerg in sich.
Die junge Lehrerin war gerührt von der Geschichte. Sie fühlte sich schon beim Gang durch das Dorf sehr heimisch und hat sich mit der Geschichte sogleich in ihr neues Zuhause verliebt. Noch immer stehen im Dorf 101 Zwerge und schenken den Menschen ein Lächeln.
Autor: Adrian Zemp, 15. März 2023
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