Ein nasser Handschuh

(Geschichte für das Editorial im Mitteilungsblatt der Gemeinde Kernenried, November 2022)

 

Dicker Nebel hat sich in der Ebene festgesetzt und verschlingt Natur und alle Gegenstände mit dichter Feuchtigkeit. Rösi schlendert gelangweilt am Rande des Weges aus Juragrien und wischt mit ihren wollenen Handschuhen die Tautropfen vom Lattenzaun, welcher den Weg säumt. Das Mädchen ist unterwegs in die Dorfmitte zum ehemaligen Salzhaus. Im mittlerweile alten und schon leicht verlotterten Sandsteinhaus wurde früher Salz gelagert und reger Handel betrieben. Heute sind die grossen Hallen als Lagerräume vermietet und bieten den unterschiedlichsten Dingen Unterschlupf. Der riesige Keller ist als Gefrierhaus umfunktioniert, wo viele Dorfbewohner ihre Lebensmittel einfrieren. Rösi geht vorsichtig Tritt um Tritt die lange steinerne und leicht glitschige Treppe hinunter. Sicher unten angekommen dreht sie an einem Schalter, mit welchem das Licht im Innern eingeschaltet wird. Dies wird ihr mit dem Aufleuchten einer grünen Lampe neben dem Lichtschalter angezeigt, welche vorher rot leuchtete. In einem kleinen Vorraum befindet sich eine grosse Türe mit einem wuchtigen Drehrad. Als sie dieses nach rechts dreht, öffnet sich der Eingang und sie betritt eine gewaltige Halle. Rechterhand befindet sich eine Wand aus abschliessbaren Fächern. Zur Linken sind viele kleine Kellerabteile aus Holzverschlägen. Auf den zahlreichen Tablaren befindet sich Essbares soweit das Auge reicht.

 

Rösi steckt einen grossen Bartschlüssel in das Schloss eines der Gattertüren und betritt das schmale Abteil. Links im Gestell befinden sich gefrorenes Gemüse und Früchte und rechts lagern die unterschiedlichsten Fleischstücke. Rösi stellt ihren Rucksack ab, öffnet diesen, nimmt Plastiksack um Plastiksack mit frisch verpacktem Gemüse heraus und schichtet dies auf eine der linken Ablagen. Gerade als Rösi das letzte Pack verstaut hat, hört sie ein merkwürdiges Geräusch. Zuerst tut sie dies als fantasieren ab, weil es ihr in dem Keller immer etwas unheimlich ist. Doch als sie die Türe ihres Abteils wieder verschliesst, hört sie das Geräusch erneut und folgt diesem bis zuhinterst im langen Gang. Am Ende angekommen verharrt sie, um dem Geräusch erneut zu horchen. Durch einen Lüftungsschacht vernimmt sie schliesslich ein deutliches Jammern, welches sie jedoch nicht richtig zuordnen kann. Das Geräusch könnte von einem Tier, vom Wind oder sonst was stammen. Vielleich von der Maschine, welche die Kälte produziert, denkt sie für sich. Als das Geräusch länger nicht mehr wahrzunehmen ist, geht das Mädchen wieder zurück zur Ausgangstüre, verschliesst alles, löscht das Licht wieder und geht vorsichtig aber eilig die lange rutschige Treppe hoch.

  

Nun noch um die Hausecke, über die Strasse und dann nichts wie nach Hause, denkt sich Rösi. Genau in dem Moment vernimmt sie erneut die verwirrenden Geräusche. Dieses mal sind sie von einem Fenster im ersten Stock zu vernehmen. Einige Minuten bleibt sie auf der Strasse stehen und lauscht den undefinierbaren Lauten. Ihre Konzentration wird von einem sanften Schlag auf ihre Schulter gestört und lässt sie erschrocken zusammenzucken. Röbi ihr Klassenkamerad begrüsst sie ruppig und erkundigt sich, was sie hier am Strassenrand träume. Sie schildert ihm von dem Gehörten, was kurz darauf auch er vernimmt. Beide sind sich nach einigem Rätseln einig, dass es sich um Geräusche eines Lebewesens handeln müsse. Dies obwohl sie diese nicht zuordnen können. Rösi und Röbi gehen daraufhin eine Holztreppe hoch in den ersten Stock und versuchen eine der Türen zu öffnen. Diese sind jedoch alle gut verschlossen. Beide rufen und klopfen an die Türen, kriegen jedoch darauf keine Antwort. Als beide wieder die Treppe runtergehen, entdeckt Röbi eine an der Hausmauer aufgehängte Leiter. Die beiden holen diese herunter und stellen sie an das Fenster, aus welchem die ominösen Geräusche schallen. Beim Hochklettern muss Rösi auf halbem Weg ihre nassen Wollhandschuhe ausziehen, weil sie damit abrutscht. Sie hängt diese an einen Hacken an der Hausmauer und das Duo steigt waghalsig ein.

 

Im Innern angekommen entdecken die beiden Jugendlichen mit Tüchern zugedeckte Gestelle. Ein grässlicher Gestank dringt in ihre Nasen und es wird den beiden beinahe übel. An der Decke hängt ein Teil eines abgebrochenen Lüftungsschachts herunter. Rösi meint, deshalb hätte sie wohl die Geräusche im Gefrierkeller gehört. Unverfroren zieht Röbi eines der Tücher von einem Gestell, um herauszufinden, was sich in dem Lager befindet.

Mit grossen Augen werden das Mädchen und der Junge von einem überraschten Dachs angeschaut. Das Gestell entpuppt sich als Tierkäfig. Die beiden entfernen die Tücher von allen Gestellen und sie können ihren Schrecken kaum fassen. In den vielen Käfigen sind der Dachs, Füchse, Hermeline, Eichhörnchen, Igel und neben vielen weiteren Wildtieren sogar ein Schwan gefangen. Deren unterschiedlichen Laute ergeben schlussendlich die merkwürdigen Geräusche, welche die beiden wahrgenommen hatten. Immer noch völlig entsetzt und ungläubig in mitten der gefangenen Tiere stehend, werden die beiden unerwartet von einer kräftigen Hand im Nacken gepackt. Eine düstere Gestalt verfrachtet die Jugendlichen unsanft in einen der grösseren leeren Käfigen. Alles Schreien und um sich schlagen von Rösi und Röbi konnten die Inhaftierung nicht verhindern. Ohne ein Wort zu sagen verlässt die Gestalt den Raum und schliesst die Türe hinter sich.

 

Unendliche Stunden vergehen, während denen die zwei Gefangenen abwechselnd versuchen sich zu befreien und fassungslos im Käfig sitzen. Auch ihr um Hilfe schreien führt nicht zu einer Erlösung aus ihrer misslichen Situation. Durch das Fenster konnten die beiden sehen wie sich der Nebel verzogen hat und die Sonne einige wärmenden Strahlen in den Raum warf. Es ist schon wieder langsam am eindunkeln als die Gestalt mit Begleitung zurückkommt. Sie beginnen die Käfige aus dem Lager zu schaffen und sind beinahe damit fertig, als ein lautes Geschrei und Durcheinander von draussen wahrzunehmen ist. Kurz darauf stehen zwei Gendarmen vor ihnen und befreien die beiden Jugendlichen.

  

Später erfahren sie, dass die Eltern von Rösi den Handschuh an der Fassade gesehen hatten. Sie machten sich Sorgen, weil sie längst vom Gefrierhaus hätte zurück sein müssen und sind sie dann suchen gegangen. Sofort wussten die Eltern, dass etwas passiert sein muss und alarmierten die Gendarmerie. Auf frischer Tat wurden dadurch die Tierräuber gefasst und die Tiere sowie die Jugendlichen konnten befreit werden.

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