(Geschichte für das Editorial im Mitteilungsblatt der Gemeinde Kernenried, März 2022)
Der glänzende in die Wand eingebaute Chromstahlkasten im Nutritionsraum, zu unserer Zeit wäre dies einfach die Küche gewesen, stellt in seinem grossen Front-Display eine Vielzahl von Zahlen, Balkendiagrammen und farbigen Kurven dar. Ein bleistiftdicker und durchsichtiger Schlauch führt vom unteren Teil des Gerätes direkt in den leicht geöffneten Mund von Luna. Mit einem leichten Surren wird durch diese Verbindung zwischen dem Hightech-Kasten und dem Teenager eine gräuliche und glitzernde Flüssigkeit in den Rachen befördert. Nach einigen Sekunden erklingt eine sanfte und leise Stimme mit den Worten: «Deine Nahrungsaufnahme ist beendet. Führe bitte den Nutrationsschlauch in die Halterung zurück, damit der Prozess für die Säuberung und Keimbefreiung gestartet werden kann». Als die Jugendliche dieser Bitte pflichtbewusst nachgekommen ist, ertönt in dem Automaten ein Zischen und leichtes Rattern. Gleichzeitig zählt es auf dem Display mit grossen Ziffern von 10 auf 0 zurück. Während dieser Zeit bleibt Luna regungslos stehen und bewegt sich erst, nachdem an der Armbanduhr an ihrem Handgelenk ein lauter Piepston erklingt und diese kurz vibriert hat. Dieselbe Stimme wie vorhin aus dem Kasten, spricht nun aus der Uhr: «Dein Nutrationsvorgang ist erfolgreich abgeschlossen. Alle ihre Vitalwerte sind innerhalb der vorgeschriebenen Toleranz. Begeben sie sich nun zur Regeneration auf ihr Sofa. Ich werde sie reaktiveren, sobald sie sich für die Schule bereit machen müssen». Folgsam schreitet Luna aus dem Nutrationsraum in den durch die Sonne durchfluteten Relaxing-Bereich. In dem früher als Wohnzimmer bezeichneten Raum setzt sich das Mädchen auf ein Sofa, stülpt sich einen Kopfhörer über und entspannt bei ruhiger Musik. Selbstverständlich ist auch diese auf ihre persönlichen Werte, das aktuelle Wetter, ihre Stimmung und das bevorstehende Tagesprogramm abgestimmt.
Nach gut einer halben Stunde beginnt die Armbanduhr mit zunehmender Stärke zu vibrieren. Anschliessend erklingt im Kopfhörer wieder die nette und angenehme Frauenstimme. Diese fordert Luna auf, den Kopfhörer zur Reinigung in die Ultraschallschale auf dem Salontisch zu legen. Die junge Dame steht selbständig aus dem Sofa auf, leistet der Anweisung Folge, streckt sich mit hochgestreckten Armen und gähnt laut. Zur selben Zeit wird auf gleiche Weise die Mutter der heranwachsenden Frau im Schlafzimmer aus dem entspannenden Schlaf zurück in die Realität geholt. Die Erziehungsberechtigte wird ebenfalls von ihrer Armbanduhr instruiert und dabei daran erinnert das Tagesprogramm ihrer Tochter zu validieren. Luna ist währenddessen bereits bei der Haustüre vor einem hellgrünen Kasten angelangt. Natürlich nach Anweisung der unbekannten Computerdame. Aus dem Spint holt sie sich eine Art Jacke, welche sie von den daran angeschlossenen Kabeln befreit bevor sie sich diese lässig überwirft. Nach ein paar Sekunden wird Luna über ihre Armbanduhr freundlich daran erinnert, dass sie die Jacke ordnungsgemäss anziehen soll, weil nicht alle Sensoren aktiviert werden können. Etwas murrend schlüpft das Mädchen in beide Ärmel und legt die beiden Vorderseiten übereinander, welche sich mit einem aufleuchtenden LED ähnlichen Licht von selbst verschliessen. Daraufhin erklingt erneut die betreuende Stimme: «Ihr klimaoptimierter Schutzüberwurf ist aktiviert. Ladestatus 100%. Reichweite bei aktueller Aussentemperatur von minus 10 Grad Celsius beträgt 1 Stunde beziehungsweise 4km, bei durchschnittlicher Gehgeschwindigkeit. Alle Sensoren funktionieren einwandfrei. Sie sind nun bereit sich in’s Freie zu begeben.» In dem Moment kommt auch die Mutter zur Haustüre. Auf einem Display an der Haustüre erscheinen wiederum verschiedene Zahlen, Tabellen und Grafiken, welche von der Mutter begutachtet werden. Lächelnd sagt die Mutter schliesslich: «Alle Parameter sind in Ordnung und auf Grün. Ich erteile Freigabe für den Austritt. Zielanweisung für Luna lautet Schule gemäss Stundenplan.» Die Mutter verabschiedet sich liebevoll von ihrer Tochter worauf sich die Türe automatisch öffnet.
Draussen hält die Teenagerin ihre Hand auf einen elektrobetriebenen Scooter, welcher zur Aktivierung einen Venenscan durchführt. Die wohlbekannte Stimmer teilt rasch mit, dass der Scooter freigeschaltet und der Autonomiebetrieb vollständig gewährleistet ist. Weiter teilt die unbekannte Frau mit, dass das programmierte Ziel, die Schule, in 15 Minuten erreicht wird. Luna stellt sich mit beiden Füssen auf die langgezogene birnenförmige Plattform, worauf sich das Gefährt mit zunehmender Geschwindigkeit in Bewegung setzt. Das Mädchen muss sich weder auf das Gleichgewicht noch auf den Verkehr auf der Strasse konzentrieren. Dies wird alles vollautomatisch vom Scooter übernommen. Übrigens. Einen Schulsack benötigen Kinder in dieser Zeit nicht mehr. Alle Informationen sind überall und jederzeit elektronisch verfügbar. Ihr Fortbewegungsmittel transportiert sie sicher und zügig über die gut befahrenen Kreuzungen und Strassen. Schon bald führt ihr Weg durch einen Wald. Diesen Teil des Schulweges geniesst Luna immer am Meisten. Sie liebt es die Bäume, Sträucher, Pflanzen und die vielzähligen Vögel zu beobachten. Leider ist es ihr verboten hier anzuhalten oder den Wald zu betreten. Dies würde sofort einen Alarm bei ihren Eltern und der örtlichen Schutzüberwachung auslösen. Luna lächelt selten. Wenn sie jedoch das Spiel der Blätter sieht, das Gezwitscher der Vögel hört und den rauschenden Wind fühlt, füllt es ihr das kleine Herz mit Glück und zaubert dem Mädchen ein zartes Lächeln auf das unschuldige Gesicht. Genau dies geschieht im Augenblick.
Plötzlich verlangsamt sich der Scooter und kommt schliesslich zum Stehen. Beinahe wäre Luna hingefallen, weil das Fahrgerät die Balance nicht mehr selber hält. Ihre Armbanduhr beginnt wie verrückt zu blinken und zu vibrieren. Die sonst so allwissende Stimme meldet wiederholend und immer wieder: «Verbindung zur Steuerzentrale verloren, Verbindung zur Steuerzentrale verloren, Verbindung….». Die Jugendliche steht nun völlig verunsichert und ganz alleine auf der Waldstrasse. Sofort ist die pure Natur für sie kein Genuss mehr, sondern eine unbekannte und beängstigende Bedrohung. Auch nach mehrmaligem Nachfragen bei ihrer Armbanduhr, erhält sie keine Antwort und schon gar keine Anweisung mehr. Luna wird von einer panischen Angst übernommen und die ersten Tränen rollen ihr über die Wangen. Schluchzend ruft sie nach Hilfe ohne jedoch von jemandem gehört zu werden. Nachdem sie nun gut eine Viertelstunde am selben Fleck steht, beginnt es sie allmählich an zu frieren. Ihr dünne Klimajacke hat aufgehört zu heizen. Das Gefühl von Kälte ist für Lune etwas neues und furchteinflössendes. Sie weiss nicht was mit ihr geschieht und was sie tun soll. Zitternd versucht sie ihre Gedanken zu ordnen. Sie ist sich nicht gewohnt selber Überlegungen anzustellen oder Entscheidungen zu treffen. Dies wurde ihr seid Lebzeiten von Computern und intelligenten Algorithmen abgenommen.
Schliesslich treibt sie die immer stärker werdende Angst und die blanke Panik sowie die beis-sende Kälte dazu, sich in Bewegung zu setzen. Noch nie in ihrem Leben ist sie zu Fuss auf der Strasse gegangen. Schon gar nicht im Wald. Schliesslich ist es aus gesundheitlichen Gründen staatlich verboten den Wald zu betreten. Angetrieben von all diesen unwirklichen Gefühlen, beginnt sie instinktiv an zu rennen. Als sie bemerkt, dass sich ihr Körper dadurch wärmt erhöht sie das Tempo. Sie will nur noch nach Hause, welches sie nach einigen Minuten auch erreicht. Unterwegs ist ihr aufgefallen, dass alle Fahrzeuge auf den Strassen still stehen und viele Menschen hilflos und verängstigt herumstehen.
Nach einiger Zeit schalten sich alle Systeme wieder ein. Immer noch weinend in den Armen ihrer Mutter vernehmen die beiden, dass ein weitreichender Stromausfall zum Ausfall sämtli-cher Kommunikationsmittel geführt hat. In der Folge ist das elektronisch kontrollierte Leben der Menschen kurzzeitig völlig aus den Fugen geraten.
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